Digitale Barrierefreiheit: Interview mit der Lessingstadt Wolfenbüttel

Es folgt ein Interview mit Stephanie Angel und Björn Reckewell 
Stephanie Angel
Lessingstadt Wolfenbüttel

Stellvertretende Abteilungsleitung Tourismus

Björn Reckewell
Lessingstadt Wolfenbüttel

Abteilungsleiter Tourismus

EU-Richtlinien, Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – das Thema digitale Barrierefreiheit ist aktuell in aller Munde. Seit wann beschäftigt Ihr Euch allgemein mit dem Thema Barrierefreiheit?

Das Thema war gefühlt schon immer da. Eine erste Aktion dazu war, gemeinsam mit unserem Zentrum für Umwelt und Mobilität einen Stadtplan aufzulegen und darin die Erreichbarkeit von öffentlichen Einrichtungen, Handel, Gastronomie, Kultur und Freizeit für Rollstuhlfahrende zu kennzeichnen. Jeder Ort wurde von den ehrenamtlichen Erhebenden zusammen mit einem Rollstuhlfahrer besucht, es wurden Durchgangsbreiten ausgemessen und Stufenhöhen notiert. Rückblickend ein sehr großer Aufwand. Aber jede Datenerfassung braucht ihre Stunde Null. Wir haben schnell erkannt, dass die Datenpflege große Ressourcen auffressen wird und haben deswegen am Ende mehr als 600 Orte in die Karte von Wheelmap.org eingepflegt und damit der Community die Pflege unserer Daten übergeben.

Parallel dazu war das Thema „Reisen für Alle“ für uns dank der Tourismusmarketing Niedersachsen GmbH (TMN) immer präsent. Unsere Tourist-Info war eine der ersten zertifizierten im Bundesland, aber wir waren mit den Ergebnissen nicht zufrieden. Das spornt an. Unsere neue Tourist-Info, die wir 2020 eröffnet haben, erfüllt so gut wie alle Kriterien mit Bravour. Das macht uns stolz.

Wann kam der digitale Aspekt hinzu? Wurde dieser erst durch die rechtliche Entwicklung auf Grund der EU-Richtlinien ausgelöst?

Wenn wir ehrlich sind, haben auch wir den Impuls der EU-Richtlinie benötigt. Uns waren viele Themen bereits vorher deutlich, aber andere Prioritäten überlagerten diese ständig. Da kam der Weckruf zur richtigen Zeit, um nicht weiter aufzuschieben, sondern ins Handeln zu kommen.

Welche Maßnahmen habt Ihr bisher im Bereich digitale Barrierefreiheit getroffen?

Wir haben 2020 unsere neue Webseite gelauncht und dabei viele technische Hürden beseitigt, die bei der alten Seite vorhanden waren. In dem Zuge ist eine Seite für Leichte Sprache entstanden. Auch ein Video mit Audiodeskription für Menschen mit Hörbehinderung ist entstanden und generell achten wir bei Videos auf (automatische) Untertitel. Das betrifft nicht nur die Webseite, sondern auch unsere Social-Media-Arbeit.

Auf der Seite für Leichte Sprache nutzt Ihr eine spezielle Bühne mit einem eigenen Styling. Wie kam es zu der Anforderung und wie seid Ihr das Thema redaktionell angegangen?

Wir haben intensiv mit einer Übersetzerin für Leichte Sprache zusammen gearbeitet. Von dort kam die ganz klare Empfehlung, dass es eben nicht nur um die Sprache an sich geht. Auch die Lesbarkeit, also Schriftart und Schriftgröße, spielen eine entscheidende Rolle für das Verständnis. Die Bühne für Leichte Sprache erlaubt es uns, von dem Standard-Template der Seite abzuweichen. Bei der Themenauswahl haben wir uns voll und ganz auf die Übersetzerin für Leichte Sprache verlassen. Sie hat uns beraten, welche Themen interessieren und welche die Lesenden überfrachten könnten. Die Texte sind nur eine Basisinformation, da Menschen mit kognitiver Behinderung in der Regel keine langen Texte lesen und selten ohne Begleitung reisen. Wenn die Nutzung steigt, ist es jedoch denkbar, die Informationen auszuweiten.

Blick in die Zukunft: Wohin geht die Reise bei Euch?

Nachdem wir 2020 unsere neue Internetseite gelauncht hatten, hat das Thema digitale Barrierefreiheit einen größeren Stellenwert bekommen. Viele kleine Schritte haben wir bereits gemacht. Ganz aktuell haben wir ein digitales Projekt in der Planung, bei dem wir von Anfang an das universelle Design so weit wie möglich mitdenken. Aber es ist auch noch viel zu tun. Und dabei geht es nicht nur um das Digitale. Ein Zusammenspiel mit dem Erlebnis vor Ort dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Wir haben dieses Thema daher auch auf der Agenda bei der aktuellen Fortschreibung unseres Tourismuskonzepts.

Was für Tipps und Empfehlungen habt Ihr für andere Destinationen, die das Thema digitale Barrierefreiheit ausbauen oder neu angehen wollen?

Einfach mal anfangen. Der Berg erscheint riesig, wenn man sich das erste Mal damit befasst. Manche Themen entpuppen sich als leichter, als man sich das vorher denkt. Insbesondere beim Thema Leichte Sprache hatten wir die Vorstellung, dass wir eine zweite Seite brauchen und sämtliche Informationen übersetzen müssten. Um die EU-Richtlinie zu erfüllen, reicht jedoch eine Basisinfo, wie wir sie haben. Das ist eine Grundlage, auf der wir aufbauen können. Und viele Dinge sind technischer Natur, da hilft ein BITV-Test. Im Anschluss weiß man, wo es hakt und kann diese Baustellen Stück für Stück abarbeiten (lassen). Und immer dran denken: Was einem Menschen im Rollstuhl hilft, dient auch der Person mit Rollator oder Kinderwagen.

Wo hohe Kontraste stark sehbehinderten Menschen helfen, kann auch die Oma oder der Opa mit einem grauen Star sich besser orientieren und Piktogramme sowie Leichte Sprache helfen nicht nur kognitiv Eingeschränkten, sondern geben auch kleinen Kindern und Grundschülern mehr Orientierung. Wer so denkt, wird merken, wie groß plötzlich die Zielgruppe derer wird, die von Barrierefreiheit und universellem Design profitieren.

Lasst uns die Welt für alle einfacher machen, sie ist auch so schon kompliziert genug.