Destination Gehirn – wenn Farbe auf Reisen geht

Teil 2 der Reihe „Veni, vidi, converti – Visuelles Design einer Conversion“

Sengende Hitze legt sich über die afrikanische Savanne. Der Jäger sitzt mit seinem Holzspeer bewaffnet unter einem schattenspendenden Baum und kämpft gegen das Eindösen. Doch dann auf einmal schreckt er auf: blitzen dort hinter den dichten grünen Blättern rot-orange Flecken, die sich zu bewegen scheinen? Der Blutdruck steigt, die Blutgefäße erweitern sich. Der Fokus seiner Augen fordert nun 80 % Aktivität des primären visuellen Cortex, gerade mal einen Millimeter groß. Der Jäger ist in Alarmbereitschaft und mit einem Schlag hellwach.

So ähnlich erging es unseren afrikanischen Vorfahren vor hunderttausenden von Jahren.
Farbensehen – für einen gesunden Menschen von heute selbstverständlich – bedeutete in unserer evolutionsbiologischen Vergangenheit den Unterschied zwischen Leben und Tod.

Auch wenn der nackte Überlebenskampf in unserer heutigen Gesellschaft in weite Ferne gerückt ist, sind wir doch noch genauso von Farben abhängig und beeinflussbar wie vor Urzeiten. So geht es bei unserer Wahrnehmung der Umwelt nicht nur um die reine Objekterkennung, sondern sie spielt sich auch auf höheren, psychologischen und emotionalen Ebenen ab. Wie sehr uns das Farbensehen beispielsweise Stabilität und Orientierung gibt, zeigt sich vor allem, wenn diese Erlebnis- und Handlungsfähigkeit durch Blindheit oder Fehlsichtigkeit eingeschränkt wird. Oliver Sacks, Professor für klinische Neurologie beschreibt in seinem Buch das Schicksal des durch einen Verkehrsunfall farbenblind gewordenen Malers Isaacson, dem das farblose Leben auf einmal wie ein schwarzweißer Horrorfilm erscheint, Menschen mit grauer Haut ihn ekeln und ihm sein Lebenswerk als Maler auf einmal sinnlos erscheint. [1]

Aber Farbe macht unsere direkte Umwelt nicht nur lebendiger und farbenfroher, sondern sie gibt vor allem schnellste Orientierungs- und Analysemöglichkeiten, worauf sich das Dream-Team Auge-Gehirn bestens spezialisiert hat. Denn Farbe kommt im Vergleich zu Bewegung am schnellsten im Gehirn an: in rasendschnellen 150 Millisekunden. [2]

Farben sind also im Prinzip nichts anderes als Signale an unser Gehirn, um entsprechend auf Umwelteinflüsse zu reagieren – vom afrikanischen Urzeitmenschen, der die Farben der Natur analysiert, bis zu uns heute, wenn wir Straßenschildern folgen oder per Klick auf den signalroten Conversion-Button unsere nächste Urlaubsreise buchen.

Aber was genau sind diese Etappen, die die Farbsignale auf ihrer Tour ins Gehirn zurücklegen?

Und welche Faktoren spielen bei der Analyse und Interpretation dieser Signale eine Rolle? Begeben wir uns auf eine beeindruckende Rundreise ins Gehirn und zurück.

01.

Die Reizaufnahme

Erinnern wir uns kurz zurück an unseren Physikunterricht in der Schule: Am Anfang war das Licht, ein Spektrum elektromagnetischer Strahlen. Von diesem Spektrum sind für unser Auge nur die Lichtwellen zwischen 400 und 700 nm als solche sichtbar. Wenn nun Licht auf das Auge trifft, werden auf der Netzhaut zunächst jene Zapfen gereizt, die auf diesen Teil des Lichtspektrums spezialisiert sind. Wir reden hier von insgesamt ca. sechs Millionen Fotorezeptoren, sogenannte Zapfen, die auf bestimmte Farben unterschiedlich reagieren und diese Signale an dahinter geschaltete Zellen weitergeben. Interessanter Fakt: Der blaue Farbbereich wird von den entsprechenden Zapfen am langsamsten verarbeitet. Rot/grün-Verarbeitung ist am effizientesten.

02.

Netzhaut der Superlative

Interessant wird es in Sachen Informationsverarbeitung nicht erst im Gehirn, sondern bereits auf der Netzhaut: Fünf unterschiedliche Zelltypen der Retina bilden ein Netzwerk aus Spezialisten, die schon im Auge komplex miteinander vernetzt sind und dann schlussendlich Nervenzellenimpulse generieren, die über den Sehnerv ins Gehirn gelangen. Als wahre Profis sind hier die etwa anderthalb Millionen retinale Ganglienzellen hervorzuheben. So entdeckte man an der Universität Basel beispielsweise einen Ganglienzelltyp, der sich allein auf herannahende Objekte spezialisiert hat. [3]

03.

Die Autobahn der Wahrnehmung – der Sehnerv

Er hat ca. sieben Millimeter Durchmesser und verbindet das Auge von dessen Rückseite mit dem Gehirn. Damit Informationen von beiden Augen auch in beiden Gehirnhälften ankommen, überkreuzen sich die beiden Sehnerven von unserem rechten und linken Auge. Ein Teil der Nervenstränge wechselt hier die Richtung, die andere Hälfte verläuft weiter geradeaus. Durch diese komplexe Verschachtelung erreichen das Zwischenhirn Informationen, die nach Gesichtshälften getrennt sind und auf diese Weise bereits zu einer Entscheidung beitragen, ob sich z. B. die Pupillenöffnung der Helligkeit anpassen muss. Das Zusammenspiel Auge und Gehirn als Gesamtsystem ist durch den Sehnerv auf optimale Performance getrimmt. [4]

04.

Destination Gehirn

Was als Abbild auf der Retina begann und in komplexe neuronale Signale umgewandelt wurde, wird nun im Gehirn zuerst in der primären Sehrinde und dann in weiteren Arealen des Gehirns analysiert. Und nun kommt eine hocheffektive Arbeitsteilung ins Spiel, die bis heute noch nicht ganz erforscht ist. Man weiß, dass Neuronen unterschiedliche Spezialisierungen aufweisen mit Fokus auf Farbe, Form und Bewegung. So reagieren z. B. unterschiedliche Neuronen auf horizontale, vertikale oder diagonale Linien. Das V4 des Gehirns weist bei Farbsignalen hohe Aktivitäten auf, eine Art „Farbzentrum″ im Gehirn wurde jedoch bisher nicht nachgewiesen. Zwei Verarbeitungsbahnen durchlaufen das Gehirn und reichen die Informationen unterteilt in „Wo″ (die Dinge im Raum und Bewegungen) und „Was″ (Objekterkennung) weiter. [5] Nachgeschaltete, auf höheren, abstrakteren Ebenen aktive Neuronen vergleichen und analysieren diese visuellen Informationen nicht nur mit Bildern aus der eigenen Erinnerung, sondern auch mit einhergehenden Eindrücken der übrigen vier Sinne.

05.

Das Gehirn (re)agiert

Kommen wir zurück auf den afrikanischen Jäger, der durch seine erhöhte Aufmerksamkeit beim Erblicken der rötlichen Farbe noch einmal mit dem Leben davongekommen ist. Sein Gehirn hat die Farb- und Bewegungssignale als alarmierend eingestuft und binnen 150 ms beschlossen, dass ein direkter Angriff mit Holzspeer die beste Verteidigung ist.

Übrigens ist die Farbe Rot tatsächlich die einzige Farbe, bei der sich Wissenschaftler darüber einig sind, dass sie nicht nur instinktiv eine in uns verankerte körperliche Reaktion hervorruft, sondern auch kulturübergreifend eine primäre Signalfarbe ist.

Was unsere heutige jedoch von der reinen Ur-Reaktion auf rot unterscheidet und bei der Farbinterpretation des Gehirns eine wesentliche Rolle spielt, sind u. a. der direkte Zusammenhang mit dem Umfeld der Farbe, subjektive Erfahrungen, kulturhistorische Erinnerungen und emotionale, psychologische Farbassoziationen. Dass für anderthalb Gramm königliches Purpurrot ca. 12.000 Schnecken verarbeitet wurden und man sich diese Farbe eben nur als siegreicher, römischer Feldherr leisten durfte, ist uns noch im kulturellen Gedächtnis geblieben.

Dass die Farbe Rot für intensive Gefühle steht – von Liebe und Erotik im positiven zu Aggression und Wut im negativen Sinn, ruft sogar in der Tierwelt entsprechende Reaktionen hervor. Blau bewirkt übrigens das Gegenteil: einen ruhigeren Puls, Freiheitsgefühl, Tiefenentspannung.

Am Beispiel der Website von Köln Tourismus GmbH wird deutlich, dass das Augenmerk des Nutzers durch den gezielten Einsatz einer auffälligen Conversionfarbe vertrieblich gelenkt werden kann.

Übertragen wir das nun auf den Gestaltungsprozess im Webdesign, muss man sich sogar noch einer weiteren Ebene bewusst werden: dass die Aufnahmefähigkeit durch multiple digitale Einflüsse noch weiter reduziert ist und die Konzentrationsfähigkeit am Bildschirm nicht so hoch ist wie beispielsweise beim haptischen Counterpart, dem gedruckten Papier. Wenn wir uns also mit Farbgestaltung beschäftigen, sollten zuerst Grundfragen geklärt werden: welches Ziel hat diese Inhaltsseite? Möchte ich nur inspirieren, eignen sich die Landschaftsbilder mit strahlend blauem Himmel wohl besser als ein rot-lauter „Jetzt klicken, um inspiriert zu werden″-Button. Benötige ich aber die volle Aufmerksamkeit des Users, schaffe ich ein einzelnes, visuell herausragendes Element wie einen Conversion-Button, der um sich herum keinerlei gleichwertige Konkurrenzfarbe oder -form zulässt und so den instinktiven Fokus des Users nutzt, gegen den er wegen seiner reflexartigen (und nicht willentlichen) Aufmerksamkeit machtlos ist, weil hier die Ur-Reaktion greift. [6]

Liste der verwendeten Quellen
[1] Johann Grolle, Jürgen Petermann: „Oliver Sacks über Farben, Sehen, Sinne“, Der Spiegel, 24/1995
[2] Thorpe SJ: „Speed of processing in the human visual system. Nature.“, 1996
[3] Tanja Krämer: „Hauchdünner Hochleistungsrechner“, 11.11.2010, Url: https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/sehen/hauchduenner-hochleistungsrechner
[4] Julia Groß: „Die Sehbahn – Hochgeschwindigkeitsleitung ins Gehirn“, 13.01.2017, Url: https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/sehen/die-sehbahn-hochgeschwindigkeitsleitung-ins-gehirn
[5] Julia Groß: „Wer, wie, was: Die Verarbeitung von visuellen Informationen“, 01.02.2017, Url: https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/sehen/wer-wie-was-die-verarbeitung-von-visuellen-informationen
[6] „Aufmerksamkeit entscheidet“, 30.10.2008, Url: https://www.n-tv.de/wissen/Aufmerksamkeit-entscheidet-article31817.html