Heimat – Versuch einer touristischen Definition

In Zeiten der Pandemie waren Botschaften wie „Urlaub in der Heimat“ oder „Urlaub dahoam“ besonders angesagt. Aber was bedeutet Heimat eigentlich? Und was muss sie sein, damit sie keine leere Hülle wird, mit der Hinz und Kunz für alles Mögliche wirbt?

Immer, wenn Gefühle maßgeblich an Entscheidungsprozessen beteiligt sind, wird es kompliziert. „Bauch sagt zu Kopf ja, doch Kopf sagt zu Bauch nein“, singt Mark Forster in seinem Lied „Bauch und Kopf“ über das Durcheinander, das durch das widersprüchliche Zusammenspiel von Seelenwelt und Ratio nur zu gerne dann entsteht, wenn es gilt, sich über die großen Dinge im Leben klar zu werden.

Die Monate der Corona-Pandemie haben diesen inneren Konflikt nicht gerade besänftigt. Im Gegenteil! Teile der Gesellschaft sind in eine post-faktische Sphäre abgeglitten. Millionen Menschen suchen in unruhigen Zeiten nach Halt. Gleichzeitig wankt das Misstrauen in Medien und das Handeln der politischen Akteure. Einfache Botschaften, schnelle Lösungen: Danach sehnen sich mehr Menschen denn je – aber die Realität ist komplex. Mit alledem eng verbunden ist der Wunsch nach Sicherheit, der Wunsch nach Vertrautem, nach Dingen, die man kennt und nach Orten, an denen man sich geborgen fühlt.

Die Tourismuswerber haben sich diese Sehnsucht nach einem Stück Normalität in der Krise landauf landab zunutze gemacht – und mit Slogans wie „Urlaub in der Heimat“ oder „Urlaub dahoam“ aus allen Rohren gefeuert. Die großen Verlage haben eine Deutschland-Sonderbeilage nach der nächsten produziert. Aber irgendwie haben dabei alle gar nicht gemerkt, dass der Begriff „Heimat“ alles andere als bestimmt ist – oder es bewusst ignoriert.

Die Wahrheit ist: Der Begriff ist völlig überladen. Eine genaue Definition scheitert an den vielen unterschiedlichen Erwartungen, den individuellen Lebensweisen der Menschen und den vielen persönlichen Historien, die eine globalisierte Welt mit sich bringt. Bei Heimat einfach auf die Beziehung zwischen Mensch und Raum zu verweisen, auf den Ort also, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem seine frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen, greift heute zu kurz.

Zwar ist Heimat immer und für jeden identifikationsstiftend, doch ist sie für den einen eben ein Gefühl, für andere der gemeinsame Sprachraum, für den nächsten ein Dialekt.

Für den nächsten wieder ist sie spezielles Brauchtum oder religiöse Zugehörigkeit – oder auch Abgrenzung. Für andere wiederum kennzeichnet sich Heimat durch Traditionen aus. Für manch‘ einen ist ihr Wesen primär durch die Geografie geprägt, durch ihre Landschaften, vielleicht einen einzigartigen Geruch. Wahrscheinlich ist Heimat etwas von alledem. Umso erstaunlicher ist es bei so viel Unschärfe des Begriffs, wie inflationär damit mittlerweile geworben wird.

Und wer bestimmt eigentlich darüber, welches Bild von einer Destination nach außen getragen wird?

Die DMO? Wenn ja, ist es dann vertretbar, dass es (schlechte) Kopien des Oktoberfests, also des Brauchtums, inzwischen zigfach auf jedem Kontinent gibt? Muss ein Frankfurter Weihnachtsmarkt wirklich auch in Birmingham stattfinden? Ist es okay, sinnstiftende Traditionen zu exportieren wie Dosenbier? Oder muss es vor dem Werben mit einem Begriff, der uns allen gehört, nicht zwingend in den Destinationen erst einmal eine Diskussion darüber geben, wo vielleicht rote Linien verlaufen, die in der Darstellung und Kommunikation nicht überschritten werden sollten?

Dass Heimat, sofern sie touristisch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist, nicht aus dem Gleichgewicht gerät, ist eine Kernaufgabe der DMO. Sie muss einem (drohenden) Kontrollverlust mit einem hohen Maß an Vorausschau, Eigenverantwortung und gleichzeitig partizipativen Prozessen entgegentreten. Dazu gehört, in der Werbung nicht mit Klischees um sich zu werfen, sondern das Fremd- und Selbstbild von Heimat regelmäßig miteinander abzugleichen und der Realität fortlaufend anzupassen. Erst dann wirkt der Begriff von innen und außen betrachtet authentisch. Und somit das, was sich Gäste von einer Destination erwarten.

Doch bei aller Kritik: Die neue Selbstverständlichkeit, mit der die Heimat in den Mund genommen und auf Anzeigen gedruckt wird, hat auch etwas Schönes, Befreiendes.

Keine 20 Jahre ist es her, da war der Heimatbegriff kommunikativ verbrannt. Ihm haftete die politische Debatte um eine (deutsche) Leitkultur an, eine Deutschtümelei, die vielen nicht in ihr Lebenskonzept passt. Rückblickend wird von vielen Sozial- und Gesellschaftsforschern die Fußball-WM 2006 als Wendepunkt dieser Betrachtung gesehen. Beim „Sommermärchen“ wehten über Nacht, und mit größter Selbstverständlichkeit, fast überall Deutschlandfahnen. Ein Symbol, das jahrzehntelang im öffentlichen Diskurs für viele Menschen zu nationalistisch konnotiert war, wurde aus diesem Kontext herausgelöst und wehte sinnbildlich über dem WM-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Der „hässliche Deutsche“ schrieb als fairer Verlierer ein internationales Sommermärchen und wurde zum „Weltmeister der Herzen“. Studien der Deutschen Zentrale für Tourismus DZT bestätigen den positiven Image-Schub Deutschlands im internationalen Ausland durch die WM.

Dieses neue, nationale Selbstverständnis ging der heutigen Normalität in der Werbung mit dem Heimatbegriff voran. Nun wird es Zeit, sich als touristische Werber mit dem Begriff in seiner starken Regionalität so auseinanderzusetzen, dass er nicht zu einer leeren Hülle wird und inflationär seinen wahren Wert verliert.